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Überschrift heißt: Klassentreffen

Als ich vor der Gaststätte stand, wollte ich plötzlich nicht reingehen und am liebsten mit dem nächsten Bus wieder heimfahren.
Ich würde Menschen begegnen, die ich dreißig oder vierzig Jahre nicht gesehen hatte. Worüber würden sie sprechen? Über alte Zeiten? Darüber, was aus ihnen geworden ist? Würden sie Fotos auf den Tisch hauen? Mein Haus, mein Auto, mein Boot! Welche Fotos könnte ich zücken?
Drei Lehrer sollten auch dort sein - die Lehrerin, die mein Comic gestohlen hatte, unser Bio-Lehrer und eine Lehrerin, mit der ich nie etwas zu tun hatte. Weitere Lehrer konnten nicht kommen, da sie keine Zeit hatten, nicht auffindbar oder schon gestorben waren. Dabei hätte ich gern dem Physiklehrer noch einmal die Sache mit der Gravitationskraft erklärt.
Ich riß mich zusammen, ging rein und erkannte die meisten nicht, dagegen viele aber mich. Ich brauchte etwas, um mich an die "neuen" Gesichter zu gewöhnen. Viele hatten sich verändert. Der Dicke war dünn, der Dürre normal, der Hübsche häßlich, die Häßliche hübsch, manche waren wie damals, nur älter.
Wurde ich gefragt, was ich jetzt mache, sagte ich "Netzwerkadministrator" oder auch "Computerspezialist". Früher hätten die meisten darauf gesagt: "Ach! Mit Computern kenne ich mich überhaupt nicht aus." Heute verwenden alle Computer, wenn es auch nur das Smartphone ist. Mit Computern kennen sie sich trotzdem nicht aus, aber sie sagen es nicht.
Die meisten sagten: "Netzwerkadministrator? Aha. Nichts mit Comics? Du hast doch immer Comics gemalt."
Bald sprach ich mit der Lehrerin, die mein Comic gestohlen hatte, und versuchte noch mal mit finsterem Blick ein schlechtes Gewissen zu erzeugen. Der Bio-Lehrer saß daneben und fragte, ob ich damals ein Hakenkreuz an die Turnhalle gemalt hätte. Er habe Hofaufsicht gehabt und deshalb unglaublichen Ärger bekommen.
Ich beteuerte, daß ich es nicht war, und erzählte, daß ich glaube, daß sehr viele Hakenkreuze in die Schulbänke geritzt worden seien und andere daraus Fenster gemacht hätten. Anders ließen sich die vielen Fenster nicht erklären. Warum sollte jemand ein Fenster in die Schulbank ritzen?
Ich hatte in der vierten Klasse einmal AC/DC in die Schulbank geritzt. Meine damalige Banknachbarin las es laut. Sie sprach es I-Sie-Die-Sie aus, was ich voll peinlich fand. Auch sie war beim Klassentreffen, ich erzählte es ihr, sie konnte sich nicht erinnern. Auch nicht daran, daß ich neben ihr gesessen hatte.
Und der Bio-Lehrer wollte sich nicht daran erinnern können, daß er der Überschrift-heißt-Lehrer war. Er war beliebt, weil er die Unterrichtsstunden meist damit begann, zehn, fünfzehn Minuten zu plaudern, lustige Geschichten, kleine Anekdoten, irgendwas, bis er sagte: "So. Überschrift heißt ....", woraufhin wir die Hefte aufschlagen und die Überschrift, die er diktierte, notieren mußten - vielleicht: "Die Fotosynthese – wie Pflanzen ihre Nahrung herstellen."
Manchmal verplauderte er sich länger. Dann sagte er: "Jetzt hab ich mich verquatscht. Sollen wir noch 'Überschrift heißt' machen? Nee. Lohnt nicht mehr." Klingelzeichen, Pause.
Warum konnten sie sich daran nicht erinnern? War das alles nur in meinem Kopf?
Allerdings konnte ich mich ebenfalls an vieles nicht erinnern. Meist ging es um Bilder, Comics, die ich hier, da oder dort gemalt haben sollte. Mir schien, sie reduzierten mich auf Comics. Dabei hatte ich im ESP-Unterricht einmal bei einem Experiment einen Elektrolytenkondensator mit Wechselstrom zur Explosion gebracht. Es gab einen Knall, eine Rauchwolke und einen Tadel für mich. War das nichts? Warum erinnert sich keiner daran?
Zum Glück wurde nicht über Politik geredet. Nur einmal hatte ich versehentlich beim Quarzen vor der Tür ein Reizwort fallen lassen, woraufhin sich eine heftige Debatte zwischen denen, die dort waren, entspann. Ich verkrümelte mich sofort, fühlte mich wie ein Bombenleger, der eine Zündschnur entfacht hatte und wegrannte. Ich rannte zu den anderen, die über alte Zeiten sprachen, dieses und jenes, Comics, und natürlich traf ich auch sie, bei der die alte Frage mitschwang: Was wäre gewesen, wenn.
Im Nachhinein betrachtet, sind zehn Jahre eine kurze Zeit. Vierzig weitere Jahre gingen alle ihre eigenen Wege. Und sechs Stunden sind zu kurz für ein Wiedersehen.

Tags: Admin, Klassentreffen, Zeichnungen, Alte Zeiten, Damals war alles besser, Frauen, Comic

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