1984 in der DDR, in der sozialistischen Demokratie, ereignete sich folgende Begebenheit, wie ich sie hier wahrheitsgemäß und ohne Übertreibung wiedergebe:
Ich hatte George mit zur Polizeiwache begleitet, wo er den Diebstahl seines Walkmans anzeigen wollte. Das Gerät war ihm ein paar Tage zuvor auf einer Silvesterfeier gestohlen worden, und noch ein paar Tage davor hatte er es zu Weihnachten geschenkt bekommen.
Den Walkman hatte seine Mutter aus dem Westen mitgebracht. Sie war eine recht bekannte Chanson-Sängerin und durfte daher ab und an für Auftritte in den Westen reisen.
Ein paar Tage lang war George, den Bügel überm Kopf und Musik in den Ohren, stolz durch Kaulsdorf gelaufen. Man konnte kaum mit ihm reden, weil er entweder nichts hörte oder, wenn er die Hörer grad nicht aufhatte, nur von seinem neuen Westimport sprach.
„Wissen Sie, was Workman heißt?“ sagte der Beamte auf dem Polizeirevier, nachdem George ihm von seinem Verlust erzählt hatte. „Workman heißt“, fuhr der Beamte fort „Arbeit-Mann. Solche Geräte produzieren die Ausbeuter im Kapitalismus, um sie den Arbeitern, die am Fließband stehen und Mehrwert produzieren, aufzusetzen, damit sie ruhig sind.“
„Entschuldigung. Das heißt aber Walkman“, warf ich ein. „W a l k – man. Und das heißt so viel wie: Spazieren-Mann. Ist also mehr was für die Arbeitslosen drüben, für die, die Freizeit haben, die gemütlich durch den Wald laufen und dabei Musik hören wollen.“
„Ach so? Na dann heißt es eben Walkman und ist für die Arbeitslosen in der Zweidrittelgesellschaft. Zwei Drittel sind dort arbeitslos, und denen geht’s schlecht.“
„Umgekehrt: Zwei Dritteln geht es angeblich sehr gut, weil sie Arbeit haben, und ein Drittel lebt am Existenzminimum, wie es heißt.“
„Existenzminimum sollen 1200 Westmark sein“, sagte George.
„Das sind umgerechnet 4800 Mark Ost“, ergänzte ich.
„Aber nur, wenn du 1:4 tauschst. Meistens kriegste mehr.“
„Mein Vater verdient 860 Ost. Drüben wäre der schon tot.“
„Hören Sie bitte auf mit dem Unsinn!“ unterbrach uns der Beamte. „Wir wollen eine Anzeige aufnehmen. Was war denn dieser Walkman wert?“
„70 West“ sagte George, der tatsächlich glaubte, eines der besseren Geräte besessen zu haben, dabei hatte diese Krücke ganz sicher für 19,99 Mark auf irgendeinem Grabbeltisch gelegen.
Und der Beamte dazu: „Also schreib ich ins Protokoll: Wert des Diebesgutes 70 Mark. Der Umtauschkurs beträgt nämlich 1:1.“
„Halt! Nein!“
„Doch! Und jetzt sagen Sie bitte, wie dieses Gerät heißt, weil Workman oder Walkman gibt es bei uns nicht.“
„Wie wäre es mit Walkwoman. Wegen der Gleichberechtigung“, sagte ich.
„Nein! Keine Amerikanismen.“
„Spazierfrau.“
„Nein.“
„Kassettenspieler für wandernde Arbeitslose.“
„Spazierkassettengerät.“
„Eindrittelrecorder.“
„Kapitalistischer Arbeiterunterdrücker.“
„Lassen Sie bitte diesen Unsinn!“ meckerte der Beamte.
„Kartenspielgroßes Kassettenabspielgerät“ war schließlich die Bezeichnung, die ins Protokoll kam.
George mußte noch die Namen aller Leute nennen, die auf dieser Party gewesen waren, soweit sie ihm einfielen.
Alle genannten Personen – also auch ich – erhielten wenig später eine Vorladung zur Polizei und wurden dort im Verhör gefragt, ob sie kürzlich auf einer Silvesterfeier gewesen seien und ein kartenspielgroßes Kassettenabspielgerät gestohlen hätten.
Jeder hätte diese Frage mit gutem Gewissen verneinen können, denn das Gerät war schließlich etwas größer als ein Kartenspiel.
Zwei Monate später erhielt George ein Schreiben, in dem die Polizei mitteilte, daß die Ermittlungen mangels Spuren eingestellt wurden.
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